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Tatsachenbehauptung nicht nachweisbar – daher unwahr?

BVerfG, Az.: 1 BvR 3388/14, Beschluss vom 28.06.2016

1. Das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 15. Juli 2011 – 324 O 274/07 – und das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 11. November 2014 – 7 U 76/11 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Tatsachenbehauptung nicht nachweisbar – daher unwahr?Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000,00 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

6 Die Verfassungsbeschwerde betrifft Unterlassungsansprüche wegen der Verbreitung persönlichkeitsverletzender Tatsachenbehauptungen.

I.

1. Der Beschwerdeführer und Beklagte des Ausgangsverfahrens ist Professor für Zell- und Molekularbiologie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und Experte für Dopingfragen. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau B., war in ihrer aktiven Zeit eine sowohl in der DDR als auch später in der Bundesrepublik erfolgreiche Leichtathletin.

2. Der ehemalige Leichtathletiktrainer der Klägerin, Herr S., betrieb gegen den Beschwerdeführer vor dem Landgericht Hamburg eine Unterlassungsklage in Bezug auf Äußerungen über Minderjährigendoping. Im Zuge dieses Rechtsstreits legte der Beschwerdeführer über seinen Rechtsanwalt einen Schriftsatz vom 26. Januar 2007 vor, in dem es auszugsweise hieß:

„Es ist hier aber auch festzuhalten, dass nach dieser offiziellen Aussage der Zeugin T. [einer ehemaligen DDR-Leichtathletin], die heute als Justiz-Angestellte bei der Staatsanwaltschaft Berlin tätig ist, 1985 bis 1987 ‚die aus ihrer Trainingsgruppe auf alle Fälle ebenfalls Oral-Turinabol genommen haben‘ …, d.h. also … die damaligen Sportlerinnen

B. <die Klägerin des Ausgangsverfahrens>

Das heißt, dass nach der unterschriebenen Zeugenaussage der Diplom-Rechtspflegerin und Staatsanwaltsjuristin T. alle genannten Sportlerinnen damals noch minderjährig waren, Frau B. sogar erst 13 Jahre alt war, und so als minderjährige Mädchen vom Antragsteller systematisch virilisiert und bewusst (siehe z.B. in der T.-Aussage erwähnten Leberwert-Kontrollen) dem Risiko von Schädigungen an Körper und Psyche ausgesetzt wurden.

Der Volksmund, aber auch der Bürger mit normalem ethischen Empfinden und Mitleidsvermögen nennt so etwas: Schweinerei ! Oder: Schande !“

Die in Bezug genommene Zeugin T. hatte in der DDR in derselben Trainingsgruppe wie die Klägerin unter Herrn S. trainiert. Im Jahr 1997 hatte sie polizeilich ausgesagt, alle Athletinnen in ihrer Trainingsgruppe hätten als Minderjährige Oral-Turinabol verabreicht bekommen.

3. Den Schriftsatz vom 26. Januar 2007 und eine Kopie der polizeilichen Aussage der Trainingskameradin Frau T. überließ der Beschwerdeführer neben der Einführung in den Prozess auch einem Journalisten der Tageszeitung „Die Welt“. Der dort auf dieser Grundlage am 20. Februar 2007 erschienene Artikel enthielt die Aussage, dass Frau B. 1985 im Alter von nur 13 Jahren von ihrem damaligen Trainer das verbotene Dopingmittel Oral-Turinabol verabreicht bekommen habe.

4. Die Klägerin nahm den Beschwerdeführer vor dem Landgericht Hamburg auf Unterlassung der Behauptung in Anspruch, sie habe 1985, als sie gerade 13 Jahre alt gewesen sei, von ihrem damaligen Trainer das Dopingmittel Oral-Turinabol bekommen.

Das Landgericht hat der Unterlassungsklage nach Beweisaufnahme stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe sich die Tatsachenbehauptung der Zeugin T. zu Eigen gemacht und sie über den Kontext des ursprünglichen Rechtsstreits hinaus verbreitet. Die Behauptung, die Klägerin habe als Jugendliche Dopingmittel eingenommen, sei geeignet, sie als ehemalige Profisportlerin in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und ihre Leistungen im Minderjährigenalter zu schmälern. Der entsprechend § 186 StGB beweisbelastete Beschwerdeführer habe den Beweis für die Wahrheit seiner Behauptung nicht erbringen können, so dass seine Tatsachenbehauptung prozessual als unwahr zu gelten habe. Im Rahmen der gebotenen Abwägung überwiege das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers. An der Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen bestehe kein überwiegendes Interesse.

Das Oberlandesgericht hat die Entscheidung des Landgerichts bestätigt und hinzugefügt, die Behauptung des Beschwerdeführers sei auch nicht von der Wahrnehmung berechtigter Interessen im Sinne des § 193 StGB gedeckt. Die Verbreitung an einen Journalisten gehe deutlich über den Bereich des vorangegangenen Gerichtsverfahrens hinaus. Auch das sogenannte „Laienprivileg“ sei nicht zugunsten des Beschwerdeführers einschlägig, weil dieser selbst journalistisch tätig geworden sei.

5. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG.

6. Der Justizsenator der Freien und Hansestadt Hamburg und die Klägerin des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.

Die Voraussetzungen für eine Stattgabe durch die Kammer liegen vor (§ 93c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgebliche verfassungsrechtliche Fragestellung der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz im Fall nicht erweislich wahrer Tatsachenbehauptungen entschieden (vgl. BVerfGE 99, 185 <197 ff.>; 114, 339 <352 ff.>).

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.

1. Die angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

a) Allerdings unterliegen gerichtliche Entscheidungen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur einer begrenzten Überprüfung. Der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab beschränkt sich auf die Frage, ob die angegriffenen Entscheidungen Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereiches, beruhen (vgl. BVerfGE 7, 198 <206 f.>; 107, 275 <280 f.>). Hierbei sind Auslegung und Anwendung einfachen Rechts im Einzelfall Sache der Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Bei Auslegung und Anwendung der einschlägigen einfach-rechtlichen Vorschriften müssen die zuständigen Gerichte allerdings die betroffenen Grundrechte interpretationsleitend berücksichtigen, damit deren wertsetzender Gehalt auch auf Ebene der Rechtsanwendung gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <205 ff.>; 85, 1 <16>; 114, 339 <347 f.>). Dies verlangt in der Regel eine Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Belange, die im Rahmen der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale des einfachen Rechts vorzunehmen ist und die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen hat (vgl. BVerfGE 99, 185 <196>; 114, 339 <348>). Das Ergebnis dieser Abwägung lässt sich nicht generell und abstrakt vorwegnehmen. In der Rechtsprechung sind allerdings Leitlinien für die konkrete Abwägung entwickelt worden. So müssen wahre Tatsachenbehauptungen in der Regel hingenommen werden, unwahre dagegen nicht (vgl. BVerfGE 99, 185 <196>). Im Fall von Tatsachenbehauptungen, die weder erweislich wahr noch erwiesenermaßen unwahr sind, ist eine Abwägungsentscheidung zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht zu treffen. Jedenfalls in Fällen, in denen es um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit geht, kann auch eine möglicherweise unwahre Behauptung solange nicht untersagt werden, wie zuvor hinreichend sorgfältig deren Wahrheitsgehalt recherchiert worden ist (vgl. BVerfGE 114, 339 <353 Rn. 44>).

b) Mit diesen Anforderungen ist die unbedingte Verurteilung des Beschwerdeführers zur Unterlassung nicht zu vereinbaren. Mit Blick auf den in den §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Klägerin verankerten äußerungsrechtlichen Unterlassungsanspruch haben die Fachgerichte den Schutzumfang der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers verkannt.

aa) Verfassungsrechtlich unbedenklich ist die Übertragung der Beweisregel des § 186 StGB über § 823 Abs. 2 BGB in das zivilrechtliche Äußerungsrecht, welche dem Beschwerdeführer die Beweislast für die Wahrheit der das Persönlichkeitsrecht der Klägerin beeinträchtigenden Tatsachenbehauptung auferlegt (vgl. BVerfGE 114, 339 <352>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 15. Dezember 2008 – 1 BvR 1404/04 -, juris, Rn. 21).

bb) Nicht tragfähig ist hingegen die Auffassung der Gerichte, dass die streitbefangene Behauptung des Beschwerdeführers, die Klägerin habe 1985 von ihrem damaligen Trainer das Dopingmittel Oral-Turinabol bekommen, wegen ihrer Nichterweislichkeit als „prozessual unwahr“ zu gelten habe und bereits aus diesem Grunde das Persönlichkeitsrecht der Klägerin überwiege.

(1) Zwar stellen die Gerichte zu Recht heraus, dass es für die Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen in der Regel keinen Rechtfertigungsgrund gibt (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>; 99, 185 <197>), weshalb die Meinungsfreiheit bei der Äußerung bewusst unwahrer oder erwiesenermaßen falscher Tatsachenbehauptungen grundsätzlich hinter das Persönlichkeitsrecht zurücktritt (vgl. BVerfGE 85, 1 <17>). Die Feststellungen des Landgerichts ergeben indes nicht, dass der Beschwerdeführer eine falsche Tatsache verbreitet hätte, sondern nur, dass er die Wahrheit seiner Behauptung nicht beweisen konnte (sog. non liquet).

(2) Für diesen Fall der Verbreitung von Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheitsgehalt nicht festgestellt werden kann, kann das Grundrecht der Meinungsfreiheit einem generellen Vorrang des Persönlichkeitsrechts entgegenstehen. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte stellt einen Ausgleich zwischen den Anforderungen der Meinungsfreiheit und den Belangen des Persönlichkeitsschutzes mittels der Prüfung her, ob die Äußerung durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) gerechtfertigt ist. Hiernach kann unter bestimmten Umständen auch eine möglicherweise unwahre Behauptung denjenigen, die sie aufstellen oder verbreiten, so lange nicht untersagt werden, wie sie im Vorfeld hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt haben (vgl. BGHZ 132, 13 <23 f.>; BGH, GRUR 2016, S. 532 <533 f.>; je m.w.N.). Dabei dürfen die Fachgerichte einerseits im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen an die Wahrheitspflicht stellen, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen (vgl. BVerfGE 54, 208 <219 f.>; 85, 1 <17>). Andererseits haben sie zu berücksichtigen, dass die Wahrheitspflicht Ausdruck der aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgenden Schutzpflicht ist (vgl. BVerfGE 99, 185 <198>; zu alldem BVerfGE 114, 339 <352 ff.>).

Je schwerwiegender die aufgestellte Behauptung in das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen eingreift, desto höher sind die Anforderungen an die Erfüllung der Sorgfaltspflicht. Der Umfang der Sorgfaltspflichten richtet sich nach dem jeweiligen Einzelfall und den Aufklärungsmöglichkeiten der Äußernden und ist für Äußerungen der Presse strenger als für Äußerungen von Privatpersonen (vgl. BVerfGE 99, 185 <198>; 114, 339 <353>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2009 – 1 BvR 134/03 -, www.bverfg.de, Rn. 64; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. Februar 2000 – 1 BvR 456/95 -, www.bverfg.de, Rn. 30 ff.; BGH, ZUM 2010, S. 339 <340 f.>).

Im Fall äußerungsrechtlicher Unterlassungsbegehren kann die Wahrheitspflicht zudem über die Verpflichtung hinausgehen, alle Nachforschungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Wird offenbar, dass die Wahrheit einer persönlichkeitsverletzenden Behauptung sich nicht erweisen lässt, ist es zuzumuten, auch nach Abschluss umfassender Recherchen kenntlich zu machen, wenn verbreitete Behauptungen durch das Ergebnis eigener Nachforschungen nicht gedeckt sind oder kontrovers beurteilt werden (vgl. BVerfGE 114, 339 <355 f.>).

(3) Diesen Maßgaben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Das Landgericht hat nach Feststellung der Nichterweislichkeit der Tatsachenbehauptungen des Beschwerdeführers keine weitere Abwägung der konfligierenden Grundrechtspositionen vorgenommen. Auch die Ausführungen des Oberlandesgerichts zu § 193 StGB beschränken sich auf die Feststellung, dass das sogenannte „Laienprivileg“ nicht zugunsten des Beschwerdeführers eingreife, ohne dass eine Abwägung in der Sache erkennbar wäre.

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen zumindest teilweise auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Für den Fall, dass der Beschwerdeführer – was zu ermitteln ist – seiner Recherchepflicht hinreichend nachgekommen ist, kann die Abwägung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht ergeben, dass der Beschwerdeführer seine Behauptungen in gewissem Umfang – möglicherweise mit präzisierenden Zusätzen – wird aufrechterhalten dürfen.

3. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

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